Mit dem Herzen eines anderen leben

Aus der Arbeit mit Transplantationspatienten Ihre Erfahrungen, ihre Ängste, ihre Hoffnungen

von Elisabeth Wellendorf | 01.01.1970

Was bedeutet es für einen Menschen, mit dem Organ eines Verstorbenen zu leben? Welche Rolle spielt der Spender in der Phantasie des Empfängers?


EAN 9783957790187

Hersteller: Info 3

* inkl. ges. MwSt. zzgl. Versandkosten


Was geschieht mit dem Selbstbild, wenn das eigene unvertraute Innere – ständig dem „Röntgenblick“ der Medizin ausgesetzt – nur noch durch Zahlen und Kurven definiert wird? Dieses Buch beschreibt die seelischen Folgen der Transplantationsmedizin für die Betroffenen und ihre Familien.


Rezension

Elisabeth Wellendorf hat zwölf Jahre als Psychotherapeutin und Maltherapeutin in der Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover gearbeitet. Das Buch ist entstanden aus der intensiven Arbeit mit Transplantationspatienten.

Aus den Sorgen, Ängsten, Nöten sowie Unsicherheiten der von ihr betreuten Patienten schildert sie übergeordnete, prinzipielle Fragen der Transplantationsmedizin. Die Identität und die Persönlichkeit eines kranken Menschen werden geprägt durch die Erfahrungen mit seiner Krankheit und dem Umgang mit ihr. Die Verengung sowie die Reduzierung auf das Überleben, allein auf das Zukünftige, das rein Somatische, auf den scheinbar ersetzbaren mechanistischen Teil, führt zu einer Einengung des Erlebens, zu Regressionen, auch durch die Abhängigkeit. Es besteht die große Gefahr, dass der Kranke sich zurückzieht, sich isoliert, verdrängt – dies sowohl vor als auch nach der Transplantation. Diese Aspekte der Persönlichkeit sind für die Transplantationsmedizin nicht von Interesse, sie werden eher als störende Faktoren auf die Seite geschoben und kaum beachtet. Die Ängste und die Fragen (wer bin ich, wenn ein Teil meines Körpers tot ist und wenn ich Teile eines Toten in mir trage? – Welche Rolle spielt der Spender in meinem Leben? – Hat der Spender freiwillig gespendet? – Ist der Hirntod wirklich der Tot des Menschen? – um nur einige Beispiele zu nennen) führen zu Verunsicherungen und Schuldgefühlen, die mit Tabuzäunen umgeben werden. Erschwert oder verhindert gar die Transplantationsmedizin die Entwicklung der Persönlichkeit? Kann es eine freiwillige Entscheidung geben, sowohl in Hinblick auf eine Spende als auch in Hinblick auf die Entscheidung, ein Organ implantiert zu bekommen? Gibt es ein Recht auf Leben? Wem gegenüber kann es eingefordert werden? Gibt es ein Recht auf Transplantation? Das würde bedeuten, dass jeder verpflichtet ist, Organe zu spenden; Organe würden zur ›einklagbaren Ware‹ verkommen – und so es wäre keine Spende, kein Geschenk mehr. Was geschieht mit einem Menschen, der mit der doppelten Wahrheit der Hirntod-Definition umgehen muss? 

Wellendorf kommt zu dem Schluss, dass die höchst fragwürdige Festlegung des HirntodKonzeptes ein typisches Beispiel dafür sei, wie man die Wirklichkeit seinen Wünschen entsprechend zurechtbiegen könne, auch wenn diese eine ganz andere ist. Das Hirntod-Konzept sei eines dieser vielen Tabuzäune, die dazu dienten, wichtige Frage gar nicht stellen zu können und zu dürfen. Die fehlende Plausibilität des Hirntod-Konzeptes wird auch anhand der bekannten Fälle von ›hirntoten‹ Schwangeren erläutert. Ebenfalls anhand von Beispielen wird die Frage berührt, welche Bedeutung veränderte Eigenschaften beim Empfänger haben, die vorher charakteristisch für den Spender waren. Wie können diese Persönlichkeitsveränderungen verstanden werden?

Das Buch zeigt eindrucksvoll, wie notwendig eine psychotherapeutisch-psychologische Begleitung aller Patienten und ihrer Familien vor und nach einer Transplantation ist. Die zunächst notwendig erscheinende Fixierung auf das Organ als ersetzbares Teil führt zu erheblichen Störungen der Persönlichkeit. Eine systematische Therapie und Forschung sind dringend notwendig, um zu verstehen, was durch die Transplantation mit den Menschen geschieht. Die Veränderung seiner Identität (vor und nach der Transplantation) ist eine schwere Krise und muss, leider im Unterschied zur heutigen Praxis, therapeutisch begleitet werden. Die schlichten Schilderungen Wellendorfs verleihen den Aussagen größtes Gewicht, sie offenbaren Wahrheiten hinter der aufgebauten Fassade der Transplantationsmedizin und werfen existenzielle Fragen auf, denen man sich weder entziehen kann noch darf. Dieses wunderbare Buch ist jedem zu empfehlen, der sich mit den Problemen der Transplantationsmedizin beschäftigen will. Es sollte jeder lesen, bevor er vielleicht einen Ausweis ausfüllt. Es erreicht eine wohltuende und notwendige, menschlich tiefe Dimension – im Unterschied zur oberflächlichen, banalen Propaganda vieler Befürworterorganisationen.

Quelle: Die Drei, Heft 2, 2015 

Erscheinungsdatum: 11.2014
Auflage: 3. (Erweiterte Ausgabe)
Seiten: 192, 21 Zeichnung(en), schwarz-weiß
Format: 20,3 x 12,5 cm
Einbandart: Paperback
ISBN: 978-3-95779-016-3