Organische Uhrsachen: Kunst-Uhren aus Dornach
von Henning Benecke |
Eine Fundgrube für Kenner und Liebhaber außergewöhnlicher Uhren
EAN 9783856362508
Hersteller: Futurum
Mit seinen architektonischen Entwürfen hat Rudolf Steiner eine neue künstlerische Formsprache geschaffen. Doch sein ästhetisches Konzept des «spirituellen Funktionalismus» geht weit darüber hinaus. Sein Ziel war es, ein durch Kunst beseeltes Lebensumfeld zu schaffen, das den seelisch-geistigen Bedürfnissen des Menschen gerecht wird. Damit rücken vor allem Alltags- und Gebrauchsgegenstände ins Blickfeld «organischer» Gestaltung, und zu ihren interessantesten Objekten gehören Uhren und verwandte Messgeräte aller Art.
Rezension
Es dürfte in der Gegenwart wohl kaum jemand wissen, dass – angeregt durch die Beschäftigung mit der Anthroposophie Rudolf Steiners – bereits im Jahre 1928 von dem Bildhauer und Techniker Paul Schatz, dem Ingenieur Wolo Wundt sowie (ab 1930) dem Bildhauer Oswald Dubach der Versuch unternommen wurde, der jahrhundertealten Uhrenindustrie durch die ambitionierte Produktion einer qualitativ völlig neuartigen Uhr einen Verwandlungsimpuls einzuprägen. Von »drei Persönlichkeiten aus Dornach« sprach Wundt verallgemeinernd in einem 1935 – kurz vor deren Verbot durch die Nationalsozialisten – in der Zeitschrift ›Anthroposophie‹ veröffentlichten Aufsatz über die sogenannte Zweischleifenuhr, nachdem das Projekt einer Zusammenarbeit mit Paul Schatz bedauerlicherweise um 1932 gescheitert war und er die wenigen bis dahin produzierten (und von ihm vorfinanzierten) Exemplare der außergewöhnlichen Uhr zu verkaufen versuchte. Schatz und Wundt waren so geistesgegenwärtig sich anzuschicken, die Zeitbestimmung und -messung zu spiritualisieren, als 1927 durch die Deutsche Reichsbahn die 24-Stunden-Zeit eingeführt und die bis dahin üblichen Ortszeiten der einzelnen Städte vereinheitlicht wurden. Mit der Zweischleifenuhr – deren Ziffernblatt eine Konchoide (Pascalsche Schnecke) zeigt und deren Zeiger dazu konsequenterweise »bewegt«, also nicht mit fester, sondern beweglicher Achse, geführt werden mussten – wurde versucht, den Menschen die Beziehung zu den Tag- und Nachtstunden in der Gestaltung und durch die Funktion der Uhr wieder neu zum Erleben zu bringen, man könnte auch sagen: dem Menschen seine Beziehung zum Kosmos in der dynamischen Beziehung des Zeigers zu den Stunden des Vor- und Nachmittags (in rot und blauem Email) bewusst vor Augen zu führen.Diesen kulturgeschichtlichen Schatz nicht nur gehoben, sondern umfassend gewürdigt (und damit vor der Vergessenheit gerettet zu haben) zu haben, ist das Verdienst des Autors der ›Organischen Uhrsachen‹. Henning Benecke ist es in mehrjährigen Recherchen gelungen, nicht nur die entscheidenden Etappen der Zweischleifenuhr zu rekonstruieren, sondern zugleich auch eine Fülle weiterer Versuche organischer Gestaltungen von Uhren an den verschiedensten Orten aufzuspüren, wobei die komplexe und überaus spannende Thematik der Zweischleifenuhr in der Gesamtdarstellung zu Recht einen breiten Raum einnimmt. Die im Zusammenhang mit den Recherchen gemachten Funde, darunter etliche Uhrengehäuse für die Zweischleifenuhr – die bis dato nur aus Fotos bekannt waren – auf einem Dornacher Dachboden im Jahre 2013, sind sensationell, und es dürfte interessant sein zu beobachten, ob und wie die einschlägige Forschung die vorliegende Publikation zur Kenntnis nimmt (die besagten Funde sind heute teilweise im Schweizer Uhrenmuseum deponiert).
Darüber hinaus lässt der Autor den Leser minutiös und in einer auch für den Laien verständlichen Sprache an den technischen Finessen der herausfordernden Uhrenmechanik (Konchoide) teilhaben, nimmt kritisch Stellung zu bestimmten, nicht realisierten Uhrenentwürfen von Paul Schatz (Vierblatt- und Lemniskatenuhr) und stellt auch den Prototyp einer selbst entwickelten neuen Uhr vor. Joachim Schultz’ Astrostat wird ebenso besprochen wie das wiederentdeckte (vermutlich jedoch bisher völlig unbekannte) Konstellarium Wolo Wundts. Hinzuweisen ist auf die künstlerische Gestaltung der zwei von Jenö Salgo geschaffenen Uhrengehäuse und nicht zuletzt auf das singuläre, figürliche Uhrengehäuse von Paul Schatz, das sich heute in Privatbesitz in den USA befindet und das der Autor dankenswerterweise endlich einmal unter den von Reinhold Fäth in dem Buch ›Dornach Design‹ entwickelten geisteswissenschaftlichen Gestaltungskriterien analysiert. In einem weiteren Kapitel werden neuere Entwicklungen von Uhren vorgestellt, darunter auch eine »Umstülpungsuhr« von Dieter Junker und eine »Vollmonduhr« von Uwe Kraft. Die inhaltsreiche Einleitung stammt – was nicht sofort zu ersehen ist – von Manfred Christ. Das Buch atmet etwas von dem weiten Geist des Aufbruchs, der die Menschen um Rudolf Steiner und die erste Generation danach beflügelte, und dokumentiert damit einmal mehr, welche schöpferischen Impulse aus der Begegnung mit der Anthroposophie hervorgehen können.
Quelle: Die Drei, Heft 3, 2017
Auflage: 1.
Seiten: 240, Farbabbildungen
Einbandart: gebunden
ISBN: 978-3-85636-250-8