Tumoresken
Am Rande der Lebenszeit
von Alfons Limbrunner |
Persönliches und Überpersönliches, die Schritte des eigenen Lebens auf den Wegen der Zeit, schält Alfons Limbrunner aus den Erfahrungen im Umgang mit der doppelten Krebserkrankung seines Sohnes und der eigenen. Nüchtern, heiter, mit der Wärme des tätigen Sozialarbeiters, der er im Berufsleben war, und mit dem Atem des an großer Literatur geübten Lesers, schreibt Alfons Limbrunner über das Wunder des Lebens.
EAN 9783772525483
Hersteller: Freies Geistesleben
Jetzt, in meiner überschaubaren und verbleibenden Lebenszeit, in der Zukunft ein knappes Gut geworden ist, was hält mich da? Gibt es noch gangbare Wege und erreichbare Ziele? Darüber gilt es, sich Klarheit zu verschaffen. Und wie das so ist, mir würden eine ganze Menge Dinge einfallen, was ich noch möchte. Schon wieder das ewige: ich möchte
ich möchte
(Alfons Limbrunner)
Übermorgen, Spiel auf Zeit, Metastasenwald, Suchttalent, Niemandsland, Bauchweh, Der Suchende so lauten die ersten sieben Überschriften der Erkundungen Alfons Limbrunners am Rande seiner Lebenszeit. Seinem Sohn Jan wird im Alter von 40 Jahren ein aggressives Non-Hodgkin-Lymphom diagnostiziert, er selbst erhält drei Monate später, im Alter von 70 Jahren, die Diagnose Adenokarzinom der Lunge. Ein Jahr nach der Diagnose wollen Vater und Sohn aus der Sprachlosigkeit heraustreten und planen als Selbsttherapeutikum ein gemeinsames Schreibprojekt, dem sie zur eigenen Erheiterung den Namen Tumoresken geben. Dem Sohn schwinden aber bald die Kräfte zum Schreiben, so realisiert es der Vater allein.
Persönliches und Überpersönliches, die Schritte des eigenen Lebens auf den Wegen der Zeit, schält Alfons Limbrunner aus den Erfahrungen im Umgang mit der doppelten Krebserkrankung seines Sohnes und der eigenen. Nüchtern, heiter, mit der Wärme des tätigen Sozialarbeiters, der er im Berufsleben war, und mit dem Atem des an großer Literatur geübten Lesers, schreibt Alfons Limbrunner über das Wunder des Lebens.
Rezension
Schon in der Einleitung entwarnt Limbrunner, dass sein Büchlein nicht als Pathographie zu verstehen sei (obgleich natürlich Elemente davon enthalten sind). Es sei gleich gesagt, dass dieses Büchlein jedem empfohlen werden kann: Man kann es einfach herzlich gerne lesen, aber sich auch tief angesprochen fühlen. Demut und Dankbarkeit sprechen daraus auf jeden Fall!
Es ist dies kein zusammenhängender Bericht, kein Tagebuch, sondern eine Perlenkette kurzer Episoden. Manches kann wie eine Mahnung gehört werden, vom Rande zurückgerufen an jene, die noch nicht bemerken, dass das Ende der Lebenszeit einmal da sein und eine unterschiedlich lange Zeit zur Reflektion, zur kleinen Schluss-Korrektur anbieten wird ... oder auch nicht. So stellt Limbrunner die ganz lebenspraktische Frage, wie man die eigene Abwesenheit einüben könne. Doch nicht belehrend wirkt das demütig-bescheidene Büchlein: Aus dem ganz persönlich Erlebten, mit etwas Abstand Beurteilten ist eigenständig Literarisches entstanden, das sich sehen bzw. lesen lässt.
In dem zunächst unverfänglich beginnenden Kapitelchen ›Heckenbraunellen‹ kommt recht unvermittelt die Frage, was man Petrus antworten könne, falls er an der Himmelspforte fragen sollte, was man im Leben versäumt habe. Seine spontane Antwort wäre, so sinnt Limbrunner: »Abgesehen davon, dass ich kein Musikinstrument spielen kann, bedauere ich vor allem, dass ich mich nie unmittelbar mit der mich umgebenden Natur, den Bäumen und Pflanzen, dem Wald und seinen Tieren befasst, sondern nur geredet und geschrieben habe ... Und dass ich kaum etwas weiß von der Welt der Sterne und dem Himmel über mir.« Die meisten von uns können sich berührt fühlen von dieser einfachen und doch so grundlegenden Antwort, gerade wenn man weiß, wie sehr Alfons Limbrunner sich mit den Fragen des sozialen Lebens nicht nur theoretisch, sondern auch helfend auseinandergesetzt hat; wie empathisch er die Weltliteratur – zumindest die westliche und die russische – in sich aufgenommen hat, mitfühlend durch die Seelen der Autoren; welchen Reichtum er in sich trägt, um aus ihm für andere zu schöpfen. Wenn man die Ehre gehabt hat, und dies sei ohne Pathos und ohne Schmeichelei gesagt, denn das würde unsere Freundschaft nur belasten, mit ihm zu arbeiten, dann weiß man seine Schreibkünste zu schätzen, die aus einer warmen Zurückhaltung stammen. Seinen Weg damit kann man bestens in seinem Buch ›Die Wanderer ins Morgenrot. Karl König, Camphill und spirituelle Gemeinschaft‹ (Stuttgart 2 2016) studieren. Ja, er wandert die Wege und beschreibt sie – nicht nur für andere.
Es gibt verschiedene Wege, mit der eigenen Erkrankung umzugehen, doch wenige, die auf die Ebene der Weltliteratur führen. Diesen Pfad fand auf jeden Fall Christian Morgenstern. Schon der Buchtitel ›Tumoresken‹ verrät eine Nähe zu diesem wohl nach Goethe meistgelesenen deutschen Dichter. Auch Morgenstern verarbeitet ernste Erfahrungen aus einer Perspektive, die vor allem eines nicht nur zulässt, sondern lehrt: nämlich Humor. Der wahre Humor entsteht eben aus dieser Möglichkeit, von tief Erlebtem Abstand zu gewinnen. Der jüngst verstorbene, zeitgemäße Clown Dimitri vermutete, dass der Humor historisch entstand, als die Menschen zu denken begannen. Wenn er nicht an Tuberkulose erkrankt wäre, hätte Morgenstern durchaus mindestens einen Titel unter den Limbrunnerschen Kurzgeschichten erfinden können: ›Metastasenwald‹.
Meiner Meinung nach stehen zwei Miniaturen im Zentrum dieses Büchleins, die als literarische Kostbarkeiten für sich schon eine Veröffentlichung verdient hätten: ›Gastmahl‹ und ›Russisches Gelage‹ – eine Henkersmahlzeit mal anders gedacht! Denn hier wird gefragt: Wen würde ich gerne noch einladen und was für diese Gesellschaft kochen? Die Wahl fällt auf Adalbert Stifter und Karl König, denn Arno Schmidt wäre zu kompliziert, und käme er, so würde Stifter fernbleiben, und das könne man nicht riskieren! Und Beuys? Nein, auch ihn nicht, denn die eine Frage, die Limbrunner ihm stellen würde, kann ruhig unbeantwortet bleiben: »Herr Beuys, wie geht das, mit dem Knie denken?« Und die russischen Freunde sollen auch lieber unter sich bleiben...
Vielleicht kann man eine so wertvolle Sammlung von Kleinoden nur am Rande der Lebenszeit schreiben. Und vielleicht ist es just dieses Nahen einer noch nicht einzuschätzenden neuen Lebenswelt, das einen über den Rand des Gewohnten schauen und von hier aus zurückblicken lässt. Wie ändert sich unsere Perspektive auf die »normale« Lebenszeit? Haben nicht viele Künstler an diesem Rand stehend geschrieben, gemalt und komponiert? Dostojewski, van Gogh und Beethoven fallen mir sofort ein; doch auch Nietzsche, Kafka und nicht zuletzt eben Morgenstern. Was haben sie aus diesem Stehen am Rand der Lebenszeit schöpfen können und wie sind sie damit auch persönlich umgegangen? Doch darüber hinaus ermutigt uns Alfons Limbrunner, schonungslos sich selbst zu befragen. Denn mit Dag Hammarskjöld sei gesagt: »Wer vom Schicksal herausgefordert wird, entrüstet sich nicht über die Bedingungen.« Oder mit Limbrunner: »Es ist, was es ist.«
Und schließlich wird der Leser dieser ›Tumoresken‹ es nicht nur als Kapitel-Überschrift lesen, sondern in sich selbst spüren: Demut und Dankbarkeit sollten das Gebot der Stunde sein.
Quelle: Die Drei, Heft 1/2, 2018