Lichtmess: Essay zum Wesen des Lichtes
von Hans-Christian Zehnter | 01.01.1970
Will man dem Wesen des Lichtes auf die Spur kommen, so muss es
EAN 9783037521014
Hersteller: Sentovision
Rezension
Hans Christians Zehnters Essay ›Lichtmess‹ ist aus langjähriger Beschäftigung mit dem Thema Licht hervorgegangen. Sein Zugang ist ein spezieller, denn Zehnter, von Haus aus Biologe, legt hier eine geisteswissenschaftliche Art der Gedankenbildung zugrunde, welche die gängige Definition des Lichtes als der »für das menschliche Auge sichtbare Teil der elektromagnetischen Strahlung« vollständig widerlegt.
Interessant ist schon die Aufteilung: Bevor der eigentliche Beginn erfolgt, werden dem Buch zwei Lesemotivationen vorangestellt, ihnen folgen eine ausführliche Einleitung über Zehnters persönliche Motivationen in Bezug auf Inhalt, Methode und Form, ein ›Exkurs zu Konstituierung der Wirklichkeit‹ (auf den im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird) und zwei ›Randbemerkungen‹. Und so sind wir bereits auf Seite 59, wo die Frage nach dem Sehen das Thema endgültig eröffnet.
Exkurse und Randbemerkungen durchziehen die Schrift weiterhin und bieten sehr spezielle Blicklenkungen, wenn man sich durch die Vielfalt der stilistischen Mittel in Schrift, Satz und Struktur des Textes nicht irritieren lässt.
Denn Zehnters Gedankenbildung verlangt dem Leser einiges ab: Jeder Begriff wird vielfach untersucht, daraus wird schließlich eine Aussage gebildet – die sogleich weiter untersucht, hinterfragt, mit Randbemerkungen versehen und ausgeführt wird. Dass das Thema »Licht« auf vielen Ebenen durchgespielt wird, ist sicherlich erwartbar. Es wird aber auch sehr viel Grundlegendes neu entwickelt, sodass sich an manchen Stellen leichte Ermüdungserscheinungen beim Lesen einstellen können – wenn man sich zum Beispiel durch den ganzen ersten Teil der Begriffserläuterungen hindurchgearbeitet hat und das Kapitel über die ›Phänomenologie von Licht und Schatten‹ dann erneut mit einem Vorab-Glossar beginnt, in dem weitere Begriffe ausführlich und komplex entwickelt werden. Zehnter treibt hier ein Prinzip des Essays auf die Spitze, indem er in einem größeren Gedankengang laufend neue Begriffe einführt und erläutert, was das Nachvollziehen der Hauptgedanken manchmal erschwert. Dabei stützt er sich in vielen Teilen wiederum auf Begrifflichkeiten, die in Rudolf Steiners naturwissenschaftlichen Schriften und Vorträgen entwickelt werden oder auch von anderen Denkern stammen, vor allem von dem 2016 verstorbenen anthroposophischen Physiker Georg Maier, der in der 1970er Jahren eine »Optik des Sehens« entwickelte und dem der Essay gewidmet ist. Wem diese Begrifflichkeiten nicht geläufig sind, der wird vielleicht manches in den im Anhang angeführten Werken nachlesen müssen, um alle angestellten Überlegungen und Ideenfolgen schlüssig nachvollziehen zu können.
Licht ist für Zehnter ein Phänomen des Sehens. Er wehrt sich gegen eine Auffassung von Licht, die den Betrachter außen vor lässt. Ohne ein »zeugendes Bewusstsein« gibt es nicht diesen speziellen Zusammenklang von »Helligkeit, Leuchten und Bewusstsein«, der das »Erlebnis Licht« ausmacht. Gleich zu Beginn wird auf die Doppelnatur des Lichts verwiesen, das einerseits Sinneserfahrung und andererseits ein darüber hinausführendes übersinnliches Erlebnis ist. Zehnter beschreibt ausführlich Nachtlicht und Taglicht, auf der Erde wie am Himmel, er beschäftigt sich mit Schatten, Leuchten und Sonnenlicht, eigenhellen und mithellen Körpern, der Geburt des Tages und dem Sternenhimmel. Das sichtbare Licht wird in Selbstleuchtendes,Mitleuchtendes und Aufleuchtendes eingeteilt. So wird es, als eine Mischung aus Geistigem, Seelischem und Stofflichem, zum Zeugen seiner selbst wie der von ihm beleuchteten Welt. Spannend ist die gedankliche Entwicklung vom »Durchtrittsort« Lichtquelle, durch die etwas Unsichtbares – eben »Licht« – ins Diesseits tritt und Irdisches aufleuchten lässt. Erlischt die Lichtquelle – als Beispiel wird eine Kerze angeführt – dann zieht sich dieses »Etwas“ wieder ins Unsichtbare zurück. Es gibt also folgerichtig ein anwesendes unsichtbares Licht und ein nicht-anwesendes unsichtbares Licht – beides hat als »reines Licht« geistige Qualität. Im späteren Kapitel über den Augenblick wird auch der Blick des Menschen, sein inneres Leuchten, als seelisch-geistiger »Durchtrittsort« aufgefasst und in sehr stringenter Weise mit dem Erleben der Zeit und dem Zeitbegriff an sich verknüpft – ein Höhepunkt des Buches.
Wunderschön liest sich Zehnters Beschreibung der verschiedenen Phasen und Eindrücke, die im Übergang von der Nacht zum Tag auftauchen – man möchte gleich auch zu nächtlicher Stunde aufzustehen, um den Zauber des werdenden Tages selbst zu erleben.
Einige interessante Ausführungen zur Geistesgeschichte des Lichtes schließen sich an. Die Beziehung der menschlichen Sinnesorganisation zum Licht wird angeschnitten, allerdings nicht differenziert ausgeführt, dafür finden sich viele Hinweise zum Weiterlesen und Selbstentdecken. In seiner pauschalen Abrechnung mit der Quantenphysik, der Elektrizität und überhaupt den modernen Naturwissenschaften macht es sich Zehnter meines Erachtens etwas leicht, da hätte ich mir mehr Tiefe und Genauigkeit in der Auseinandersetzung gewünscht. Dadurch kann man seine Ausführungen über die Phänomene elektrischen Lichts leicht als restaurativ (miss)verstehen, auch wenn Zehnter hier sehr kluge Gedanken über die Gegensonnenwelt der selbstleuchtenden Bildschirme anschließt.
In den abschließenden Kapiteln versammelt Zehnter – neben einem ausführlichen Rückblick auf seinen methodischen Ansatz, den er in Anlehnung an Goethe als einen synthetischen versteht – seine Ideen noch einmal und bündelt sie in einer mehrfachen Dreigliederung des Lichts, in der Umkreis, Sehen und Auge ins Verhältnis gesetzt werden. Und auch wenn dieser Essay einige Durchhaltekraft beim Lesen fordert – als eigenwilliger und ideenreicher Beitrag zum Wesen des Lichtes bieten Zehnters Ausführungen jede Menge Denkanstöße.