Womit ich nie gerechnet habe
Die Autobiographie
von Götz W. Werner |
"Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht umgekehrt". 40 Jahre nach der Gründung des ersten dm-Marktes und zu seinem 70. Geburtstag legt Götz Werner seine Autobiographie vor.
EAN 9783548612546
Hersteller: Ullstein BuchVerlage
"Zahnpasta-Verkäufer", antwortet Götz Werner gerne auf die Frage, was er sei. Doch der Gründer und Inhaber der Drogeriemarktkette dm ist sehr viel mehr: Vordenker moderner Managementmethoden, Vorkämpfer für das bedingungslose Grundeinkommen und ruheloser Rhetoriker in Sachen Unternehmensethik. Götz Werner ist überzeugt, dass Integrität zum Erfolg führt. Deswegen steht bei dm das ganzheitliche unternehmerische und soziale Denken im Mittelpunkt. Respekt vor der Individualität der Mitarbeiter und vor dem regionalen Umfeld der Märkte wurden zur Grundlage für organisches Wachstum.
Der Erfolg gibt dem Milliardär und "Realträumer", wie er sich selbst bezeichnet, recht. 40 Jahre nach der Gründung des ersten dm-Marktes und zu seinem 70. Geburtstag legt Götz Werner seine Autobiographie vor.
Rezension
In seiner Autobiografie bezieht sich Götz Werner oft auf Goethes Faust. Dass ein abgewandelter Vers aus Fausts Osterspaziergang für die dmWerbung zweckentfremdet wurde (»Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein«), mutet dabei in moralästhetischer Hinsicht zunächst etwas frivol an. Gleichzeitig erscheint es einem hier irgendwie erlaubt und letztlich auch inhaltlich gedeckt: evident, würde Götz Werner sagen. Dass dm 200 Jahre nach dem Erscheinen des Werther gegründet wurde, 1973/74, wird im Buch nicht eigens erwähnt: »Am 28. August« – Goethes Geburtstag – »feierten wir Eröffnung.« Der Dichter stand der Erfolgsgeschichte dieses Werks bekanntlich selbstkritisch gegenüber, es war noch nicht das, was ihm vorschwebte und was er bewirken wollte. Indem Götz Werner »wider Willen ein Unternehmen gründete«, legte er gewissermaßen seinen Werther vor. Aber erst die evolutionäre und nachhaltig erfolgreiche Firmenphilosophie der dm-Kette wurde gleichsam Werners Faust: ein Fußgängerzonen-Klassiker, Verbraucher-Pflichtlektüre. Gedanklich war er schon beim nächsten Schritt, gemäß seinem Credo, weniger Trends nachzujagen oder sie künstlich zu kreieren, als vielmehr dem zur Geburt zu verhelfen, was im Menschen liegt. Ohne die Analogie zu weit zu treiben: So gesehen wäre Werners Farbenlehre das bedingungslose Grundeinkommen. Hier wird er seit einiger Zeit als gesellschaftspolitischer Kämpfer für einen Paradigmenwechsel wahrgenommen. Während Goethes ganzheitliche Perspektive die Naturwissenschaft jener Zeit herausforderte, provoziert das Grundeinkommen die Wirtschaftstheoretiker. Spätestens Anfang Mai 2005 drang Werner damit ein in den öffentlichen Diskurs, als er in der Folge eines brand eins-Interviews in eine populäre TV-Talkshow eingeladen wurde.
Seine mit Elan (und mit der Journalistin Claudia Cornelsen) verfasste Autobiografie gibt einen Eindruck möglicher Gründe dafür. Sie vermittelt einen energischen Geist, der – mehr autodidaktisch als akademisch – aus dem Denken des Deutschen Idealismus schöpft, und macht erlebbar, wie sich unorthodoxe Ideen, prüfen sie sich an der Wirklichkeit, für alle Beteiligten auszahlen: als ein Gewinn, der jenseits von Zahlen liegt. Werner trennt nicht zwischen Arbeit und Freizeit. Kategorien wie ein Hobby haben kommen in seinem Leben nicht vor. »Wie kann ich das weiterentwickeln?« ist sein Motto. Da helfen oft Umwege, obwohl ja Abkürzungen als effektiver und ökonomischer gelten. Der schnellste Weg muss nicht der klügste sein. Kommt Werner auf einer Autofahrt halb an einer Filiale vorbei, macht er gern einen Schlenker und schaut kurz vorbei, um zu erfahren, was es Neues gibt oder Neues geben müsste, und legt auch mal spontan selber Hand an. Ob dm daher wirklich einfach nur Drogeriemarkt heißt? Oder nicht doch eine Abkürzung von der Mensch ist? Vielleicht die einzige, die Werner akzeptierte, beschreibt es doch die Freiheit des Vertrauens ins Individuum. Der Mensch ist kein notwendiges Übel in einem Unternehmen, sondern dessen ganzer Sinn. Und das ist der Mensch: »… In der Schule sitzengeblieben, nach elf Schuljahren abgegangen. Deutscher Jugendmeister im Rudern, Drogist gelernt, Prokurist geworden. Verstoßener Sohn. Realträumer …«
Werner kann komplexe Inhalte anschaulich machen. Sein Stilmittel ist das symptomatische Schlüsselerlebnis, die exemplarische Anekdote. Eine solche entscheidende Wende vollzog sich etwa durch die Anthroposophie, von der er sagt, sie habe ihn »befeuert«, aber »nicht vereinnahmt«. Bei der Lektüre lernt man nebenbei viel über Aspekte wirtschaftlichen Handelns. So erfährt der Leser, dass es in Drogerien eine Bück-, Greif-, Sicht- und Streckzone gibt. Natürlich kämpfen Hersteller um eine prominente Platzierung ihrer Waren, während es dm auf den Kunden ankommt: Kleine Produkte müssen leicht zu sehen und zu greifen sein. So ist auch das Buch konzipiert. Man flaniert durch Werners Leben wie durch einen dm-Laden: breite Gänge, angenehmes Licht. Irgendwann fragt man sich, ob nicht ein wenig die dunklen Täler und einsamen Schluchten, also Brüche und Spannungen fehlen, etwas, womit man als Leser nach einer Weile nicht schon gerechnet hätte – wie in all den Passagen, wo sich mal wieder etwas bestätigte, was Werner prognostiziert hatte. Schließlich gibt es ja auch Dinge, die unbewältigt bleiben und einen aus der Bahn werfen. Doch auch privat Schmerzhaftes wird im Buch so behandelt, dass man weiß, wo im Lebensregal es vorerst eingeordnet ist: schwere Dinge unten. Kurz fragt man sich: Soll man ihm das abkaufen? Indes muss der Verlust eines nahestehenden Menschen auch nicht grell ausgeleuchtet werden, um hier trotzdem einen Begriff davon zu vermitteln, was er bedeutet haben mag. Der Autor möchte erkennbar sachlich bleiben, nicht sentimental werden oder bedrängen – wie der Konkurrent Schlecker, in dessen Geschäften man sich leicht alleingelassen fühlen konnte und dessen Lebensgang (und Vorgehen) sich am Ende als wenig vertrauenswürdig entpuppten.
Werner versucht nach vorne zu schauen, dank bar zu bleiben, und lernt von Beobachtungen, vom Dialog mit anderen, den er gezielt sucht. Wegbegleiter werden fair gewürdigt, seien es langjährige Helfer, seien es jene, die seiner Ansicht nach aus ihrem »Erfahrungsgefängnis« nie herauskamen (oder nicht wollten). Im 14./15. Kapitel wird überzeugend erklärt, dass die Grundeinkommenidee nicht dem Kalkül entsprang, sondern organisch aus der Logik des Gegenstands heraus im Gespräch entwickelt wurde: der quasi bar ausbezahlte Steuerfreibetrag. Überschriften wie »Steuern sind das Einkommen der Gemeinschaft« sind dabei sehr hilfreich – wie überhaupt das kleinteilig gegliederte Buch (16 Kapitel mit Prolog und Epilog, viele pointierte Zwischentitel) sein reichhaltiges Informationsangebot leserfreundlich verwaltet. Oft fallen hübsche Aphorismen ab: »Wer immer in die Fußstapfen anderer tritt, hinterlässt keine Spuren.« Authentisch wirkt die gezielt eingesetzte Naivität, in der Phrasen befragt werden: »Arbeit sichern« oder »Kundenbindung«. Auch der etymologische Fund, dass Karriere vom lateinischen carrus kommt, dem Wagen, und den gesamten Lebensweg meint, ist in vielerlei Hinsicht charakteristisch für Götz Werner.
Man begegnet in dieser plaudernd vorgetragenen und trotzdem irgendwie spannenden Autobiografie einer Persönlichkeit, die eine im weitesten Sinne lebenskünstlerische Grundhaltung konsequent auf das wirtschaftlich-soziale Handeln angewandt hat, eine Lese- und letztlich auch Lebenserfahrung, die man jedem Menschen wünschen mag.
Quelle: Die Drei, Heft 9, 2014
Seitenanzahl: 304
Bindeart: Softcover
ISBN: 978-3-548-61254-6
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