Die Zukunft entdecken

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Grundlagen des Geschichtsunterrichts

von Bartoniczek, Andre |

Junge Menschen begegnen der Geschichte. Die biografische Bedeutung dieses Vorgangs und seine pädagogischen Voraussetzungen beschreibt Andre Bartoniczek in dieser umfangreichen Darstellung. Er erläutert die erkenntnistheoretischen, anthropologischen und didaktischen Grundlagen des Geschichtsunterrichts an der Waldorfschule. Mit Rezension!


EAN 9783772515569

Hersteller: Freies Geistesleben

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Junge Menschen begegnen der Geschichte. Die biografische Bedeutung dieses Vorgangs und seine pädagogischen Voraussetzungen beschreibt Andre Bartoniczek in dieser umfangreichen Darstellung. Er erläutert die erkenntnistheoretischen, anthropologischen und didaktischen Grundlagen des Geschichtsunterrichts an der Waldorfschule. Mit Rezension!


Rezension

Andre Bartoniczek, Historiker an der Waldorfschule Stuttgart Uhlandshöhe und dort auch in der Lehrerbildung tätig, hat ein Lehr- und Nachschlagewerk für den Geschichtsunterricht geschaffen, das die genialen Anregungen Rudolf Steiners für dieses zentrale Fachgebiet in bisher nirgendwo erreichtem Umfang für die Schulpraxis zugänglich macht und zugleich die zugrunde liegenden Erkenntnismethoden neu beleuchtet – weit hinaus über Pioniere wie Hans Erhard Lauer, Erich Gabert, Johannes Tautz oder Christoph Lindenberg. Ein Werk wie dieses wird seit langem dringend gebraucht. Denn im Zuge einer nur allzu verständlichen Kritik an der Autorität ideologischer Systeme, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts unermesslichen Schaden angerichtet haben, wird in der akademischen Geschichtsforschung, aber auch im gesamten Schulwesen jedes Suchen nach Sinn im Weltgeschehen tabuisiert. Durch den PISA-Schock und seine Folgen, die auf ein flächendeckendes Teaching for the Test hinauslaufen, auch an Waldorfschulen, wird dieser Trend weiter verschärft. Und das hat gravierende Folgen. Bereits der große Psychiater und Menschenfreund Viktor Frankl hat darauf warnend hingewiesen: Wo junge Menschen daran gehindert werden, in der Weltgeschichte nach Sinn zu suchen, breitet sich Resignation aus, individuelle Initiativen werden gelähmt, Krankheit und Gewalttätigkeit provoziert. »Die Frage nach dem Sinn«, schreibt Bartoniczek, »ist durch die Vorgänge der letzten 100 Jahre mittlerweile keine intellektuelle Frage für philosophisch interessierte Akademiker mehr, sondern sie ist eine regelrecht medizinische Frage geworden.« Bartoniczek diskutiert eingehend die mit diesem Kernproblem zusammenhängenden wissenschaftstheoretischen Fragen, die methodischen Aporien der Geschichtsforschung, Lösungsansätze der Fachdidaktik, anthropologische Voraussetzungen, neue entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse besonders zur Situation junger Menschen im Entwicklungsalter. Im Rückgriff auf Aleida Assman und zahlreiche andere Autoren beleuchtet er auf hohem Niveau die neuere Diskussion zum Begriff der Erinnerung im Hinblick auf Geschichte. Allein schon die Fülle des dabei zusammengetragenen Materials macht das umfangreiche Buch lesenswert.

Für anthroposophisch interessierte Leser dürfte besonders attraktiv sein, wie Bartoniczek einen wegweisenden Begriff aus Steiners Buch Von Seelenrätseln aufgreift. Steiner konfrontiert ja in diesem wissenschaftstheoretisch zentralen Werk seine Anthroposophie, die von übersinnlichen Wahrnehmungen ausgeht, mit der sinnengebundenen empirischen Forschung der üblichen Art, die er hier als Anthropologie bezeichnet, schildert die unterschiedliche Art und Weise, mit der beide Forschungsrichtungen durch begrifflich-logische Bearbeitung ihrer jeweiligen Wahrnehmungsfelder zur Verständigung im gemeinsamen Raum einer Philosophie über den Menschen gelangen und hebt dabei hervor, wie Anthroposophie sich an Grenzen des Erkennens verhält, wo Gedankenlogik nicht mehr weiterkommt: Sie resigniert nicht und sie verzichtet auf Hypothesen über das zunächst Unfassbare. Stattdessen setzt sie sich auf dem Wege geduldigen Übens der rätselhaften, schwer erträglichen Grenzerfahrung aus. Dabei verändert sich nicht nur der Gegenstand des Erkennens, sondern der erkennende Mensch selbst. Im »besonnenen Erleben mit Grenzvorstellungen« tritt eine Art Tasterlebnis auf, das sich bei weiterem Üben zu einem differenzierten neuen Wahrnehmen erweitert. Hieran anknüpfend beschreibt Bartoniczek, im Anschluss an eine frühere Untersuchung, wie Steiners historische »Symptomatologie« durch Übung zu Bildern und zu darin verborgenen Gesten gelangt, hinter denen übersinnlich-geistige Realitäten spürbar, schließlich auch begrifflich fassbar werden. Was Clifford Geertz als »dichte Beschreibung« in die Ethnologie eingeführt hat, praktiziert er im Hinblick auf den Waldorf-Geschichtsunterricht: ein behutsames Heranführen an die Rätsel all der kausal nicht ableitbaren Ereignisse der Weltgeschichte, die bis heute kein Historiker plausibel erklären kann. Als Beispiele bringt er das Erscheinen von Ackerbau und Viehzucht zur Zeit der Neolithischen Revolution, das Wunder der Pyramidenbauten in Ägypten zu Beginn des dritten vorchristlichen Jahrtausends, das Erwachen des freien Denkens zur Zeit der Perserkriege in Griechenland. Man staunt, wie viel sinnlich Greifbares, konkret im Einzelnen Beschreibbares im Hinblick auf diese Rätselereignisse sich zusammentragen lässt, wie pädagogische Erzählkunst die Phantasiekraft der Schüler in Bewegung setzen und Erlebnisse existentieller Betroffenheit hervorrufen kann, die sich im Licht des Reinkarnationsgedankens als ahnendes Erinnern an eigene Vergangenheit deuten lassen. Bartoniczek fasst zusammen: »Erinnerung im Geschichtsunterricht ist also ein äußerst komplexer Vorgang. Durch das aktive seelische Nachmodellieren der imaginativen Gebärden geschichtlicher Ereignisse, Strukturen oder Persönlichkeiten vollzieht sich in den unterbewussten Schichten der menschlichen Konstitution im rhythmischen Wechsel von Schlafen und Wachen eine Wahrnehmung der im eigenen Inneren anwesenden Zustände der vergangenen Zeiten«.

Natürlich ist damit nicht gemeint, was heute auf dem Markt degenerierter Esoterik als »Rückführungen« angeboten wird. Was sich dabei im Sinne anthroposophischer Esoterik denken lässt, ist ausschließlich Sache des Lehrers. Für ihn hat Bartoniczek ein spezielles Kapitel eingefügt, in welchem er seine Schilderungen mit den Begriffen der Engellehre Rudolf Steiners beleuchtet. Man wird ihm deshalb den Vorwurf machen, dass er damit anthroposophische Dogmatik zwar nicht in den Unterricht selbst, aber sozusagen durch die Hintertür doch in die Vorbereitung dieses Unterrichts einführt. Wer genau genug liest, wird diesen Vorwurf nicht begründet finden. Steiners Engellehre ist als Ergebnis anthroposophischer Forschung ein gleichsam frei schwebendes Vorstellungsgebilde, das mit den Mitteln anthropologischer Forschung weder bewiesen noch widerlegt werden kann und erst auf dem Weg persönlicher Übung das Niveau gültiger Evidenz erreicht. Bis dahin eröffnet sie Denkmöglichkeiten und überzeugt durch ihre Plausibilität. (Deshalb konnte Walter Johannes Stein, der erste Geschichtslehrer der Waldorfschule, in Zusammenarbeit mit Steiner seine philosophische Dissertation in eine detaillierte Erkenntnislehre des Engelbewusstseins einmünden lassen, ohne dass die zuständige Wiener Fakultät dagegen Einwände erhob.)

Bedenken habe ich gegen Bartoniczeks kühnen Griff, die Große Karmaübung Rudolf Steiners hier ins Gespräch zu ziehen, auch wenn sie inzwischen öfter zitiert und sogar schon in einschlägigen Kursen angeboten wird. Er sieht selbst, dass »das Herauslösen eines Zitates aus seinen intimen esoterischen Zusammenhängen zu wissenschaftlichen Zwecken natürlich nicht unproblematisch ist: Die geschilderten Inhalte sind so sensibel, schwer formulierbar und weitreichend, dass sie eigentlich den Schutzraum der konkreten Vortragssituation brauchen und isoliert vom äußerst anspruchsvollen Kontext missverständlich sein können«. Die gute Absicht mag dies Vorgehen legitimieren. Missverständlich bleibt es trotzdem. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn anthroposophisch orientierte Forscher kritischer prüfen würden, was als gewordene Esoterik der Besprechbarkeit zugänglich ist und was als werdende Esoterik im lebendigen Geheimnisraum persönlicher Gespräche sich erst noch entfalten will. 

Quelle: Die Drei, Heft 11, 2014

Erscheinungsdatum: 04.2014
Auflage: 2.
Autor: Bartoniczek, Andre
Einbandart: gebunden
ISBN: 978-3-7725-1556-9