Tragödie und Befreiung
Geistige und politische Hintergründe des 100-jährigen Krieges in Palästina
von Valentin Wember |
Der Gautama Buddha gab auf die Frage nach der Ursache von Leid eine grundsätzliche, sehr tiefe Antwort, die auch heute noch gültig ist: In den Untergründen der Menschenseelen gibt es gewaltige Triebkräfte, die jedoch blind sind, solange sie nicht von Erkenntnis durchdrungen werden. Diese Triebkräfte seien im tiefsten Grund immer die Ursache von Leid. Meine Frage ist deshalb: Welche gewaltigen Triebkräfte sind in dem 100-jährigen Krieg in Palästina / Israel wirksam?
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Hersteller: Stratosverlag
Vorwort
Nach dem Angriff der Hamas gegen Israel am 7.Oktober 2023, ging Israel zum Gegenangriff über und zwar in einer Größenordnung, dessen Zerstörungswucht mindestens 50 Mal so massiv war, wie alles, was an Greultaten am 7. Oktober geschehen ist. Die Wut einiger israelischer Politiker überschlug sich und richtete sich nicht nur gegen die Hamas, sondern gegen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens. Der Präsident Israels erklärte, dass die Zivilisten in Gaza legitime Ziele seien, da sie sich als menschliche Schutzschilde vor die Hamas-Kämpfer stellen würden. «Es ist eine ganze Nation da draußen, die verantwortlich ist. Es ist nicht wahr, dass die Zivilisten nichts davon wussten und nicht beteiligt waren. Das ist absolut nicht wahr.» Mit ähnlicher Begründung verkündete Yoav Gallant, Israelischer Verteidigungsminister: «Es wird für die Menschen im Gazastreifen keinen Strom geben, keine Nahrungsmittel, kein Wasser und keinen Treibstoff. Alles wird gecancelt. Wir kämpfen gegen Tiere in Menschengestalt. Und wir werden angemessen reagieren. Gaza wird nicht mehr zu dem zurückkehren, was es einmal war. Wir werden jeden eliminieren.» Oder Giora Eiland, ehemaliger Leiter des israelischen Sicherheitsrates: «Eine massive humanitäre Krise in Gaza zu schaffen, ist ein notwendiges Mittel, um unser Ziel zu erreichen, dass die Hamas uns niemals mehr angreifen wird. Gaza wird ein Ort werden, an dem kein Mensch mehr existieren kann.» Galit Distel Atbaryan, Mitglied der israelischen Knesset, ehemalige Informationsministerin: «Die Gaza-Monster werden zum südlichen Zaun fliegen und versuchen, ägyptisches Gebiet zu betreten, oder sie werden sterben. Gaza sollte ausgelöscht werden.» In «The Times of Israel», äußerte ein rechtsextremer Minister: «Atomwaffen auf Gaza sind eine Option, die Bevölkerung sollte nach Irland oder in die Wüste gehen.» Ein anderer: «Gaza muss sich in Dresden verwandeln.»
Genau so wurde es dann umgesetzt. Die Zerstörung von Gaza beträgt ein Vielfaches der Zerstörung Dresdens und Hiroshimas.
Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres meldete sich zu Wort und verurteilte den Anschlag der Hamas. Er sagte allerdings auch, dass der Anschlag «nicht in einem luftleeren Raum» stattgefunden habe, sondern die Palästinenser seit 56 Jahren unter «erstickender Besatzung» litten. Die Folge dieser Äußerung: Mehrere israelische Politiker reagierten mit heller Empörung auf die Äußerung des UN-Generalsekretärs. Der israelische Außenminister Eli Cohen warf dem Generalsekretär vor, in einer anderen Welt zu leben. Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Erdan, forderte Guterres zum Rücktritt auf. In Deutschland nannte der Journalist Henrik M. Broder Guterres einen «lupenreinen Antisemiten».
Guterres hatte es gewagt, den Schutz von Zivilisten anzumahnen. Hatte Guterres etwas Falsches gesagt? Er hatte Israels Vorgehen im Gazastreifen als «kollektive Bestrafung» von Palästinensern kritisiert – also als einen Verstoß gegen internationales Recht, das Kollektivstrafen verbietet. Israels Außenminister Eli Cohen sah das völlig anders: «Nach dem 7. Oktober gibt es keinen Platz mehr für eine ausgewogene Position.» Die für die Tötung von mehr als 1.000 Israelis verantwortliche Hamas müsse «vom Erdboden vertilgt werden».
Inzwischen (Ende Januar 2024) sind mehr als 30.000 Palästinenser getötet worden. Davon die Hälfte Kinder. Es geschieht «am hellichten Tag» und die Welt schaut zu. Wie kann das alles sein? Warum? Warum so viel unvorstellbares Leid? Gibt es keine Aussicht auf eine Lösung, mit der alle leben können, anstelle einer Endlösung des Todes?
Sehr verehrte Leser, verzeihen Sie, wenn ich an dieser Stelle den Bogen sehr weit spanne: Der Gautama Buddha gab auf die Frage nach der Ursache von Leid eine grundsätzliche, sehr tiefe Antwort, die auch heute noch gültig ist: In den Untergründen der Menschenseelen gibt es gewaltige Triebkräfte, die jedoch blind sind, solange sie nicht von Erkenntnis durchdrungen werden. Diese Triebkräfte seien im tiefsten Grund immer die Ursache von Leid. Meine Frage ist deshalb: Welche gewaltigen Triebkräfte sind in dem 100-jährigen Krieg in Palästina / Israel wirksam?
Ich werde in diesem Buch Erkenntnisbausteine herantragen, damit Sie als Leserin und Leser diese Steine verwenden können, um sich selbst – mit Buddha zu sprechen – «die richtige Meinung» und «das richtige Urteil» zu bilden, um daraus «das richtige Wort» und «das richtige Handeln» zu finden. Ich selbst maße mir nicht an, im Besitz der Wahrheit zu sein oder gar der einzigen Wahrheit. Ich möchte Ihnen wichtige Ergebnisse anderer Forscher vorstellen, die in der deutschen Öffentlichkeit relativ wenig bekannt sind.
Mit der Wahrheit verhält es sich wie mit einem großen Berg: Es gibt sehr viele verschiedene Sichtweisen und Perspektiven auf einen Berg. Wer einen Berg nur von einem Standpunkt aus betrachtet, würde sich irren, wenn er glaubte, den Berg beurteilen zu können. Auch ich bin weit davon entfernt, den ganzen Berg aus verschiedenen Perspektiven und unter allen wesentlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Ich habe nur seit drei Jahrzehnten etliche Arbeiten jüdischer und arabischer Historiker studiert und möchte einiges davon berichten. Die Historiker, mit denen ich mich beschäftigt habe, sind in meinen Augen Giganten und – im positiven Sinne – auch «Nerds». Sie haben im Zuge ihrer Forschungen jeden Stein und umgedreht darunter geschaut. (Wobei viele Dokumente – vermutlich sogar 80 Prozent - nach wie vor klassifiziert und nicht zugänglich sind.) Einige derjenigen Historiker, die ich studiert habe, haben ihr Leben ihrer historischen Forschung geweiht und ihre Arbeiten schweren Bedingungen wie Krankheit oder massiven Anfeindungen abgetrotzt. Ich selbst habe auf ihrem Gebiet nie geforscht. Ich komme mir deshalb vor wie ein Zwerg, der auf die Schultern dieser Riesen klettert, dort ein kleines Fähnchen schwingt und ruft: Schaut einmal, was diese Giganten geleistet haben.
Mehrere Arbeiten, die meinen Horizont erweitert haben, zum Beispiel das 1300 Seiten starke Buch «The Empty Wagon» (Der leere Wagen) von Yaakov Shapiro oder das kaum weniger umfangreiche von Tony Greenstein «Zionism During the Holocaust» von 2022 oder manche Arbeiten von Ilan Pappé sind nicht ins Deutsche übersetzt worden und haben vermutlich auch nur geringe Chancen dazu. Umso mehr hat mich dieser Sachverhalt dazu ermutigt, auf das hinzuweisen, was diese Forscher zutage gefördert haben, zumal mir Freunde, denen ich von diesen Forschungsarbeiten berichtete, versicherten, all das nicht gewusst zu haben. «Das solltest du aufschreiben», sagten sie.
Vorab möchte ich noch benennen, dass ich zwar auf verschiedene Strömungen des Judentums eingehe, aber etwas weniger auf solche des Islam. Der Grund für dieses Ungleichgewicht ist so simpel wie tragisch. Wie wir noch sehen werden, gäbe es den 100-jährigen Krieg nicht, wenn es den Zionismus nicht gäbe. Deshalb musste ich die Wurzeln des Zionismus und sein Verhältnis zum Judaismus darstellen. Das, was ich zur Entstehung des islamischen Fundamentalismus in den Kapitel 29 und 41 dargestellt habe, schien mir für das Anliegen meines Buches ausreichend zu sein. Sollte ich mich in diesem Punkt irren, bitte ich um kollegiale Korrektur.
Neben den sachlichen Informationen liegt das innere Zentrum meiner Arbeit in dem Versuch, zu verstehen und nicht bloß zu berichten und zu urteilen. Man kann ein Problem nicht lösen, wenn man es nicht richtig erkannt und identifiziert hat. Aber Erkenntnis ist ein schweres Geschäft – im Unterschied zu schnellen Meinungen und im Unterschied zum politischen Kampf, der versucht, Fakten gezielt auszuwählen, zu frisieren und in den Dienst seiner Interessen zu stellen.
Im Unterschied zum politischen Kampf freue mich auf fundierte Korrektur, Kritik und weiterführende Gedanken. Wenig interessiert bin ich an Kommentaren von Menschen, die emotional aufschreien, sobald sie auf eine Perspektive stoßen, die ihrer eigenen widerspricht, insbesondere dann, wenn ihre persönliche Meinung kaum auf einem auch nur halbwegs seriösen Studium beruht. Abweichendes einfach niederzuschreien und zu diffamieren, ist in meinen Augen nicht der Wahrheit dienlich, sondern höchstens der Rechthaberei, politischen Interessen und oft sogar dem Geist der Lüge. Mir geht es nicht um Rechthaberei. Wenn ich Fehler gemacht habe, kann man mir das mitteilen und mich verbessern.
Ich schicke als letztes voraus, dass ich in dem folgenden Beitrag verantwortlich bin für das, was ich sagen werde. (Über weite Strecken werde ich nur referieren.) Ich bin auch verantwortlich dafür, wie ich das sage, was ich sagen werde. Aber ich bin nicht verantwortlich dafür, wie Sie das, was ich sagen werde, aufnehmen. Das liegt allein in Ihrer Verantwortung.
Thun (CH), den 9. Februar 2024
Inhalt
Vorwort 8
Einleitung: Der israelische Gandhi 13
Teil A Tragödie
1* Wer ist ein Jude? 20
2* Warum «Heiliges» Land? 23
3* Die jüdische Mutter 25
4* Felix Bartholdy 27
5* Von der Religion zur Ethnie 29
6 Tora, Talmud und Messias 33
7* Antisemitismus (1) 40
8* Antisemitismus (2) 47
9 Antisemitismus (3) 52
10* Zionismus 54
11* Christlicher Zionismus in England 56
12 Christlicher Zionismus in den USA 59
13* Neo-jüdischer Zionismus 61
14* Ein Volk, eine Sprache, ein Staat 67
15 Netanjahu 2016, 2024 70
16* Strategische Partner 74
17* Antisemitismus (4) 78
18 Alle Mann an Bord 80
19* Israel – ein Segen, dass es dich gibt! 82
20** Schatten eines großen Lichts 86
21* 1917 - 1948 91
22* Die Nakba 100
23 Das Thema «Nakba» in Israel. 103
24 1967 105
25 Die Siedlungen im Westjordanland 111
26 Die PLO-Charta 115
27* Jeschajahu Leibowitz – das Gewissen Israels 117
28 Militarisierte Früherziehung 120
29* Wurzeln der Hamas in Erfahrungen in den USA 125
30* Tat twam asi 131
31 1973 bis 2023 135
32* Operation «Gegossenes Blei» 143
33 7. Oktober 2023 (1) 150
34 7. Oktober 2023 (2) 154
Teil B Befreiung
35 Die Realität mit eigenen Augen sehen 159
36 Menschlichkeit inmitten der Katastrophe 162
37 Der Sohn des Generals 169
Teil C Perspektiven
38 Südafrikas Anklage 175
39 Der Ben-Gurion Kanal 179
40 Großer und kleiner Bruder 181
41 Ibn Chaldun und die Huthis 184
42 Mitte der Erde – Spiegel der Welt 189
Anhang
1 Persönliche Transparenz 194
2 Kritik und Grenzen der Kritik 199
3 «Existenz-Recht» 204
4 G.F.W. Hegel «Der Geist des Christentums» 206
5 Methodische Nachgedanken 209
Anmerkungen 213
Literatur 219
Erscheinungsdatum: 2024
Auflage: 1
Seiten: 236
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