Der Charisma-Faktor
Glücklich sein mit Sisyphos
von Kurt E. Becker |
Becker verfolgt den steinewälzenden Helden von der Antike über Goethes Faust zu Nietzsche und Rudolf Steiners Idee der Dreigliederung als Charisma in der Gemeinschaft. Das Buch bietet dabei mitreißende und provokante Annäherungen an Jesus, Paulus oder Goethe, wie man sie selten liest. Ein Ratgeber auf dem Weg zum Charisma in den Angelegenheiten des eigenen Selbst.
EAN 9783957790255
Hersteller: Info 3
Was fasziniert uns am Leben eines Paulus oder Luther? Es ist das Charisma dieser Personen. Charisma ist aber gleichzeitig auch das, was die persönliche Existenz sinnvoll macht. Charismatisch zu leben heißt, die Bestimmung des eigenen Lebens zu erkennen, dieser Bestimmung zu folgen und damit einen Weg zu beschreiten, den nur eine und einer zu gehen imstande ist.
Ausgerechnet der tragische Sisyphos wird für Kurt E. Becker zum charismatischen Individualisten der Moderne, der sich gemeinsam mit anderen zu dem aufschwingt, was kein Einzelner schafft. Becker verfolgt den steinewälzenden Helden von der Antike über Goethes Faust zu Nietzsche und Rudolf Steiners Idee der Dreigliederung als Charisma in der Gemeinschaft. Das Buch bietet dabei mitreißende und provokante Annäherungen an Jesus, Paulus oder Goethe, wie man sie selten liest. Ein Ratgeber auf dem Weg zum Charisma in den Angelegenheiten des eigenen Selbst.
Auszüge
"Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich sich drehen? Wer diese Fragen im Sinne Zarathustras bejaht, hat sein Charisma gefunden, er ist bei sich in seinem Selbst angekommen, ein Sinnstifter in eigener Sache, ein Überwinder des Possenreißertums, ein Führer, der die letzten Menschen aus ihrer Glücks-Lethargie, aus ihrem hedonistischen Phlegma zu reißen versteht."
Charisma heißt, die Bestimmung des eigenen Lebens erkennen und dieser Bestimmung folgen, damit einen Weg beschreitend, den nur eine/einer zu gehen imstande ist. Der Übermensch in unserem Selbst wird durch unser Charisma befreit von den Fesseln enger Ich-Sucht, sein Blick wird geweitet für die Freiheit, sich im anderen, im Fremden wiederfinden zu können und dadurch eine wunderbare Entdeckungsreise des eigenen Selbst antreten zu können, um am Zielort dieser Reise zu erkennen, dass ein Existieren ohne den anderen Menschen nicht möglich ist. Mensch unter Menschen sein zu dürfen, steht deswegen in Großbuchstaben über dem Eingang zu unserer charismatischen Selbstbestimmung.
Kurt E. Becker
Rezension
»Jedermann weiß um den Wahnsinn, unter dem das Weltgeschehen dieser Zeit vor sich geht, weiß also um die Übermacht der ihn umgebenden Gefährdung, doch niemand weiß dieselbe zu lokalisieren …« Das sind Worte von Hermann Broch. Kurt E. Becker lässt den Dichter im zueignenden Zitat sprechen, als sei er unser Zeitgenosse. Dennoch verspricht Becker im Untertitel: ›Glücklich sein mit Sisyphos‹. Bezug genommen wird auf den Essay von Albert Camus ›Der Mythos des Sisyphos‹, der sich – wie so einiges – seit der Schulzeit durch Beckers Leben zieht. Nach Camus mache die Akzeptanz der Absurdität »aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss«. Er gehe über das eigene Sein hinaus und verwirkliche sich im Sozialen. Der charismatische »Übermensch« Sisyphos suche sich deshalb Gleichgesinnte, um seine tägliche Aufgabe, einen Felsblock den Berg hinaufzuwälzen, erfüllen zu können.
Glück entsteht demnach aus der Akzeptanz der Absurdität des eigenen Seins. Ein Glück außerhalb des Sozialen anzunehmen, ist für Becker schlicht ein Irrglaube. Daher gehöre zum charismatischen Menschen unlösbar das kommunikative Talent.
Bei der Lektüre von Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ erfuhr der damals 16-jährige Becker – noch bevor er dieses Wort kannte – ein Erweckungserlebnis für das Charisma, das ihn seit Ende der siebziger Jahre über die Promotion bis hin zu mehreren Buchveröffentlichungen umtreibt. Das vorliegende Buch, nach Bekunden Beckers wesentlich ein »sokratischer Dialog«, sei ein weiteres Zwischenergebnis der Auseinandersetzung mit dem Thema und verbunden mit den persönlichen vier »Säulenheiligen«: Sokrates, Max Weber, Rudolf Steiner und Nietzsche. Dessen Definition des Übermenschen, »der römische Cäsar mit Christi Seele«, dieses »erotisierende Verhältnis von Macht und Güte« ließ ihn seither nicht mehr los. Denn was sei Macht ohne Güte und Güte ohne Macht? Folgerichtig ist das erste Kapitel dem Philosophen der »Umwertung aller Werte« und seinem »Buch für alle und keinen« gewidmet. In der Figur des Seiltänzers erscheint der Balanceakt des modernen Menschen »über den Abgründen der von uns geschaffenen Welt«. Ein »bunter Gesell«, ein Possenreißer mit dem Gemecker eines Teufels, desavouiert dessen Darbietung über der gebannt zuschauenden Menge. Der Seiltänzer stürzt in die Tiefe, das Volk nimmt Reißaus.
Wer sind nun diese schrillen Possenreißer, die uns zum Verhängnis werden, fragt der Autor und antwortet mit einer Vision Nietzsches über den Europäer im Angesicht einer »ungeheuren Trümmerwelt«, wunderschöner Ruinen, überwachsen mit Unkraut. Dieses so erhaben am Boden Zertrümmerte sei nichts anderes als der abendländische Mensch, folgert er. Und wenn jener nur ein Ideal gewesen sei, können wir seine Wirkung bis heute spüren, vor allem in der »Beschäftigung des Menschen mit sich selbst«, die es – der alttestamentarischen Weisung folgend – bewirke, aus der Natur herauszutreten, sich in einer »totalitären Ökonomisierung« die Erde untertan zu machen.
Hier fällt nun das Wort Nietzsches, wohlgemerkt von einem Coach führender Wirtschaftskräfte, der Becker neben vielem anderen auch ist: Die industrielle Kultur, sei »die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat«. Der eindimensionale Blick und das beschränkte Handeln daraus ist es, was nach seiner Meinung überwunden werden müsse. Wir sollten uns mit Zarathustra die Frage stellen: »Was ist der Sinn der Erde?« Es ist der Übermensch – und das bedeute, sich nicht nur mit dem eigenen, sondern auch mit dem fremden Selbst auseinanderzusetzen, über alle Grenzen hinweg. Damit sind wir wieder bei der charismatischen Führung – und erfahren dabei so bisher nicht Gedachtes, zum Beispiel über Khomeini: »Seine Macht äußerte sich gemeinschaftsstiftend, Himmel und Erde, Gott und Welt in einem tief empfundenen ›Wir‹ vereinend«, beschreibt Becker den hochgelehrten Geisteswissenschaftler Khomeini vor der Revolution. Nach der Revolution wurde der Iran eine islamische Republik, die letztlich auch den Dschihad verfassungsmäßig legitimiert. Dass dessen Märtyrer vorm Auslöschen der eigenen Existenz nicht Halt machen, ist etwas, was unsere westliche Zivilisation nicht mehr zu begreifen fähig ist. Und so gelte dem einen das Reich des Bösen als Reich des Guten und umgekehrt. Ähnlich verhalte es sich mit dem Charisma. »Wie ihr das Leben liebt, so lieben wir den Tod«, zitiert der Autor die IS-Propaganda als Beleg dafür, dass ein charismatisches Glückserlebnis auch kulturell bedingt ist.
In einer auf materielle Bedürfnisbefriedigung reduzierten Welt werde »mit der Religion auch das Geistige« verbannt. Auf der Strecke bleibe damit zugleich das Soziale, argumentiert er, um zu einem weiteren »Säulenheiligen« zu gelangen: Rudolf Steiner, der Erziehung, Bildung und Kunst dagegensetzt – »allesamt mit erheblichen sozialen Implikationen«. Sein Sozialimpuls und das damit verbundene Auffinden der Dreigliederung des sozialen Organismus – also das Durchdringen des Wirtschafts- und Rechtslebens mit dem des Geisteslebens – sei »eine Revolution aus dem Innersten des Menschen heraus« und bleibe »zeitlos relevant«. Doch Steiner fehlten, so der Autor, zur »instrumentellen Durchsetzung« die nötigen »Gefolgsleute an den Schalthebeln der Macht«. Steiners Charisma habe »die Strahlkraft des Geistigen« in all seinem Wirken besessen – etwa in der von ihm begründeten Heilpädagogik, die eine Mitwirkung der seelenpflegebedürftigen Menschen »beim gemeinschaftlichen Felsblockwälzen als wesentlich« diagnostiziert. Mit Karl König habe dann eine Entwicklung und Fortschreibung stattgefunden – in dessen zutiefst charismatisch inspirierter Überzeugung, dass die gesamte Menschheit seelenpflegebedürftig sei.
Beckers Buch ist eine gebildet-unterhaltsame Reise durch die Kulturgeschichte auf den Schwingen des Charismas, das wir hier als notwendig und pflegebedürftig erkennen, angefangen bei den alten Griechen, über den Beginn des Christentums und dessen Widersachern (am Beispiel des Mephistopheles im ›Faust‹) bis hin zum Begründer der Anthroposophie und den schier unlösbaren Problemen unserer Gegenwart. Durchdrungen ist sein Charisma von einer »übermenschlichen« Menschlichkeit, die stets nach der Güte und dem Sinn der Erde fragt.
Quelle: Die Drei, Heft 8/9, 2016
Auflage: 1.
Seiten: 240
Einbandart: Paperback
ISBN: 978-3-95779-025-5