Anthroposophie und Wissenschaft
von Peter Heusser |
Eine Einführung | Erkenntniswissenschaft, Physik, Chemie, Genetik, Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Philosophie des Geistes, Anthropologie, Anthroposophie, Medizin
EAN 9783723515686
Hersteller: Verlag am Goetheanum
Dieses Buch ist die erste gründliche Einführung in die Wissenschaftsgrundlagen der Anthroposophie und der anthroposophischen Medizin im Kontext der akademischen Wissenschaft. Dabei ermöglicht die Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners eine bisher kaum beachtete solide Grundierung der modernen Wissenschaften. Physik, Chemie, Genetik, Morphogenese, Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Anthropologie und Philosophie des Geistes werden durch sie ihrer reduktionistischen Form entkleidet und bilden so die empirische Grundlage eines neuen, geistgemäßen wissenschaftlichen Verständnisses von Mensch und Natur. Das wird an aktuellen Grundfragen nach dem Wesen der Substanz, des Lebens, der Wechselwirkung von Leib und Seele und der Freiheit des menschlichen Geistes aufgezeigt. Das Resultat ist eine nicht-reduktionistische Anthropologie, die die emergenten Eigenschaften von Körper, Leben, Seele und Geist als verschiedene, aber gleichermaßen reale Wesensschichten des Menschen anerkennt. Das ist kongruent mit den grundlegenden Konzepten der Anthroposophie und anthroposophischen Medizin, aber auch mit der klassischen Anthropologie des Abendlandes. Es wird gezeigt, wie sich diese Anthropologie historisch und erkenntnismethodisch in die moderne Anthroposophie weiterentwickelt hat, und wie sich deren Erkenntnisresultate zur modernen naturwissenschaftlichen Forschung verhalten, besonders in der Medizin. Das Buch ist auch als Wissenschaftsgrundlage der Pädagogik sowie anderer Fachgebiete geeignet, die es mit dem Menschen als Ganzem zu tun haben.
Rezension
Anthroposophie und Wissenschaft – zwei scheinbar unvereinbare Kulturen. Für die einen ist es selbstverständlich, dass Anthroposophie keine Wissenschaft ist und nie eine werden kann, da sie auf unwissenschaftlichen Voraussetzungen beruhe; für die andere Seite ist die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie ein wesentlicher Bestandteil derselben. Wie kann diese Kluft überbrückt werden? Man könnte auf die Wissenschaftsgeschichte verweisen und zeigen, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass die Wissenschaften auch mit geistigen Erlebnissen und Inhalten ganz selbstverständlich umgegangen sind und dass die naturalische, oder materialistische, Verkürzung, der methodische Reduktionimus, noch gar nicht so alt ist. Man könnte auch auf die anthroposophische Praxis (Heilpädagogik, Medizin, Waldorfpädagogik) hindeuten, um zu zeigen, dass der anthroposophische Ansatz von praktischer Relevanz ist und demnach das entsprechende Weltbild ernstzunehmen ist. Drittens kann man den modernen Wissenschaftsbegriff auf den Prüfstand stellen und zu zeigen versuchen, dass es dazu noch nicht hinreichend ausgeschöpfte Alternativen gibt.
Heusser greift da und dort viele dieser Ansätze auf; sein eigentlicher Weg ist aber ein anderer: Er zeigt, wie die Praxis des Denkens und Forschens, gerade in den Naturwissenschaften, durch ihre eigene Konsequenz zu Einsichten, zu experimentellen und theoretischen Ergebnissen, oder zumindest zu Praktiken kommt, die mehr oder weniger nahtlos in eine erweiterte Auffassung des Weltbildes münden, wie es die Anthroposophie vertritt. Wenn man die erarbeiteten naturwissenschaftlichen Resulate wirklich ernst nimmt, wenn man die Ansätze der fortgeschrittensten Wissenschaftler zu Ende denkt, dann transzendieren diese oft das eigentlich zugrunde liegende materialistische Weltbild. Oder ander gesagt: Viele Resultate der modernen Wissenschaft lassen sich nur verstehen, wenn man das materialistische Weltbild in seiner rigorosen Strenge verlässt.
Das wird nicht nur überblicksmässig oder grundsätzlich gezeigt, sonden in vielen Details, mit vielerlei Literaturverweisen. Heusser beginnt mit einem für alles Folgende grundlegenden Kapitel über ›Erkennen und Wirklichkeit‹. Dort werden die Fundamente des wissenschaftlichen Erkennens anhand einer empirischen Untersuchung von Denkvorgängen erarbeitet, die zeigen, dass ein solches Denken bereits die naturalistischen Voraussetzungen sprengt. Im folgenden Kapitel über ›Wissenschaft und ontologischer Idealismus in Physik und Chemie‹ wird mit Hilfe des Begriffs der »Emergenz« gezeigt, dass Prozesse dieses Bereiches solche Grenzen nicht zu rechtfertigen vermögen. In ähnlicher Weise wird dies anschliessend für die Biologie, insbesondere für die moderne Genetik und die Evolutionstheorie gezeigt. Dabei spielt das Konzept von nicht nur strukturell, sondern wirksam anwesenden Gesetzmäßigkeiten eine wesentliche Rolle, also Gesetze, die nicht nur Prozesse regeln oder ordnen, sondern selbst aktiv wirksam anwesend sind.
Die Nichtreduzierbarkeit organischer Prozesse auf physikalisch-chemische Vorgänge findet ihre Fortsetzung in Betrachtungen, die zeigen, dass psychische Prozesse ebensowenig auf organische Prozesse zurückführbar sind, auch wenn sie mit solchen in engstem Maße verbunden, korreliert sind. Die Überlegungen Heussers sind gründlich, ausführlich und gut durch rezente Literaturbelege dokumentiert, sowohl aus dem klassischen naturwissenschaftlichen Bereich als auch durch Steiners Ausführungen zu diesen Themen, ergänzt durch Untersuchungen anthroposophischer Autoren.
Gemäss der Herkunft des Autors spielt die anthroposophisch-medizinische Anthropologie eine zentrale Rolle, der auch ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Weiter geht es mit grundlegenden Untersuchungen zur ›Anthroposophie als empirische Geisteswissenschaft‹, die überleiten zur abschliessenden Kulmination des Buches im Kapitel ›Anthroposophische Geisteswissenschaft und naturwissenschaftliche Medizin‹, dem Hauptarbeitsgebiet des Autors. Hier werden nun die Konsequenzen aus allen vorangehenden Resultaten und Methoden gezogen und das viergliedrige anthroposophische Menschenbild, die anthroposophische Auffassung von Gesundheit und Krankheit mit dem damit einhergehenden Therapiekonzept eingehend behandelt. Und das alles vor dem Hintergrund moderner medizinischer Forschungen aus aller Welt sowie natürlich insbesondere aus den Arbeitsgruppen des Autors selbst. Hier wird auch eine sehr willkommene, mit vielen Literaturstellen belegte, allgemeine Einschätzung der Lage der klinisch-wissenschaftlichen Forschung in der anthroposophischen Medizin geleistet.
Das bereits in zweiter, leicht überarbeiteter und auf den neuesten Stand gebrachte Werk musste bereits bei seinem ersten Erscheinen als Standardwerk anerkannt werden – umso mehr jetzt auch in seiner zweiten Auflage, die gleichzeitig mit einer nahezu identischen englischen Auflage erscheint. Das Werk besticht in seiner stringenten Gedankenführung, in seinen gut erarbeiteten Argumentation, in seiner strengen und differenzierten Begrifflichkeit sowie in seinen Anknüpfungen an moderne Forschungen aus den Naturwissenschaften. Der Autor hat sich in alle diese Gebiete tief eingearbeitet und man kann am Nachvollzug seiner Gedanken viel lernen; man erhält jedoch vor allem methodisch und inhaltlich viele Anregungen zur Fortsetzung dieses gründlichen Werkes im Hinblick auf eine sachgemässe Anerkennung der Anthroposophie als empirisch orientierter Geisteswissenschaft.
Quelle: Die Drei, Heft 5, 2017
Seiten: 400
Format: 15,8 x 23 cm
Einbandart: gebunden