Bedeutung der Zeugnissprüche an Waldorfschulen
Beim Zeugnisspruch geht es darum, dass das Kind auf einer bildhaft-imaginativen Ebene ein Gefühl für seine innere Entwicklungsrichtung bekommt. Dabei kommt sowohl dem Inhalt, als auch der Versstruktur und des Rhythmus Bedeutung zu, da das Sprechen eines bestimmten Rhythmus heilsam und anregend auf die Körperrhythmen der Schüler einwirken kann (siehe dazu "Von der heilenden Kraft des Wortes und der Rhythmen: Die Zeugnissprüche in der Erziehungskunst Rudolf Steiners (Menschenkunde und Erziehung)" von Heinz Müller (nur noch gebraucht erhältlich).
Der Spruch soll als eine Art Leitmotiv oder Wegweiser für das Schuljahr oder im Idealfall für das ganze Leben des Schülers dienen, das zu entwickeln, was als Keim und Potenzial in der Seele des Kindes liegt. Vom Lehrer wird daher eine hohe Beobachtungsgabe für den Charakter und das Temperament des Kindes gefordert, sowie ein intuitives Einfühlungsvermögen für das keimhaft-mögliche, was sich noch entwickeln kann, sodass das Kind als souveräne Individualität im Leben stehen und tätig sein kann. Gefordert ist also ein Blick, der dieses Potenzial oder diese Entwicklungsrichtung auch erahnen kann.
Rhythmischer Teil an Waldorfschulen
Das Sprechen der Zeugnissprüche und des Morgenspruchs sind Teil des sogenannten rhythmischen Teil des Hauptunterrichts, den der Klassenlehrer einer Waldorfschule führt. Dabei werden auch Lieder gesungen, Klatschspiele gespielt oder sich im Rhythmus bewegt. Dies aktiviert und harmonisiert die physiologischen Rhythmen im Körper der Schüler wie Herzschlag und Atmung und hat gleichzeitig eine aufweckende und gesundheitsfördernde Wirkung. Erst danach folgt der eigentliche Unterricht, wobei die am Vortag behandelten Inhalte, die in der Nacht verarbeitet wurden, in der Regel zuvor kurz wiederholt werden.
Die Morgensprüche
Ein elementarer Bestandteil des rhythmischen Teil ist neben dem Zeugnisspruch noch der Morgenspruch. Es gibt für die Unterstufe und Mittel- bzw. Oberstufe zwei unterschiedliche Morgensprüche.
Der Morgenspruch für die Klassen 1-4:
Der Sonne liebes Licht,
Es hellet mir den Tag;
Der Seele Geistesmacht,
Sie gibt den Gliedern Kraft;
Im Sonnen-Lichtes-Glanz
Verehre ich, o Gott,
Die Menschenkraft, die Du
In meine Seele mir
So gütig hast gepflanzt,
Dass ich kann arbeitsam
Und lernbegierig sein.
Von Dir stammt Licht und Kraft,
Zu dir ström' Lieb und Dank.
Rudolf Steiner
Der Morgenspruch für die Klassen 5-12:
Ich schaue in die Welt;
In der die Sonne leuchtet,
In der die Sterne funkeln;
In der die Steine lagern,
Die Pflanzen lebend wachsen,
Die Tiere fühlend leben,
In der der Mensch beseelt
Dem Geiste Wohnung gibt;
Ich schaue in die Seele,
Die mir im Innern lebet.
Der Gottesgeist, er webt
Im Sonn'- und Seelenlicht,
Im Weltenraum, da draußen,
In Seelentiefen drinnen. -
Zu Dir, o Gottesgeist,
Will ich bittend mich wenden,
Dass Kraft und Segen mir
Zum Lernen und zur Arbeit
In meinem Innern wachse.
Rudolf Steiner