Sprachgestaltung als Gegengewicht zum Materialismus
Für Rudolf Steiner spielte die Sprachförderung in der frühen Kindheit und in der Schule eine der Hauptrollen für die Förderung der leiblichen Gesundheit. Darüber hinaus wurde die Sprachpflege von Steiner und Marie Steiner-von Sivers als Gegengewicht den sich verfestigenden, materialistischen Tendenzen entwickelt. Denn in der Gestalt des gesprochenen Wortes selbst, in den Tönen, Lauten und der Struktur liegt ein Seelisch-Geistiges, das durch das rein abstrakte Verständnis der Sprache aus dem Bewusstsein gedrängt wird. Durch ein bewusstes, künstlerisches Gestalten der Sprache, die auf den ganzen Menschen wirkt - auf die Atmung des Menschen, auf sein Denken, Erleben und seinen Willen - kann in der Sprachgestaltung dieser Zugang wieder erarbeitet werden:
„Das «Wort» ist nach zwei Richtungen der Gefahr ausgesetzt, die aus der Entwickelung der Bewußtseinsseele kommen kann. Es dient der Verständigung im sozialen Leben, und es dient der Mitteilung des logisch-intellektuell Erkannten. Nach beiden Seiten hin verliert das «Wort» seine Eigengeltung. Es muß sich dem «Sinn» anpassen, den es ausdrücken soll. Es muß vergessen lassen, wie im Ton, im Laut, und in der Lautgestaltung selbst eine Wirklichkeit liegt. Die Schönheit, das Leuchtende des Vokals, das Charakteristische des Konsonanten verliert sich aus der Sprache. Der Vokal wird seelen-, der Konsonant geistlos. Und so tritt die Sprache aus der Sphäre ganz heraus, aus der sie stammt, aus der Sphäre des Geistigen. Sie wird Dienerin des intellektuell-erkenntnismäßigen, und des geist-fliehenden sozialen Lebens. Sie wird aus dem Gebiet der Kunst ganz herausgerissen.
Wahre Geistanschauung fällt ganz wie instinktiv in das «Erleben des Wortes». Sie lernt auf das seelengetragene Ertönen des Vokals und das geistdurchkraftete Malen des Konsonanten hin-empfinden. Sie bekommt Verständnis für das Geheimnis der Sprach-Entwickelung. Dieses Geheimnis besteht darin, daß einst durch das Wort göttlich-geistige Wesen zu der Menschenseele haben sprechen können, während jetzt dieses Wort nur der Verständigung in der physischen Welt dient.“ (Rudolf Steiner, Mein Lebensgang (GA 28), S. 438f)
Ausbildung in der Sprachgestaltung
Sprachgestalter werden heute an unterschiedlichen Schulen und Instituten ausgebildet und können danach auf der Bühne, künstlerisch, therapeutisch oder pädagogisch an Schulen eingesetzt werden. Die weltweit erste und älteste Schule für Sprachgestaltung als Therapie ist das Institut für heilkünstlerische Sprachgestaltung, gegründet von Christa Slezak-Schindler. Erarbeitet werden darin die von Rudolf und Marie Steiner entwickelten Grundlagen der Sprachgestaltung und deren heilende, belebende Kräfte als Therapie für den Menschen, sowie Kurse für die Ich-Entwicklung durch sprachkünstlerische Tätigkeit. Aus dem Institut hervorgegangen ist der Marie-Steiner-Verlag mit seinen Sprachkunstkarten.
Sprachgestaltung als Wiederholung des Sprachentstehungsprozesses
„Gerade indem die Kultur fortschreitet, und immer mehr und mehr der Ausdruck der Überzeugung, der Ausdruck des Konventionell-Sozialen in die Sprache eindringen muß im Fortschritt der Kultur, desto unpoetischer, unkünstlerischer wird die Sprache. Und der Dichter muß erst wiederum mit der Sprache kämpfen, um sie in künstlerische Gestaltung umzusetzen, in dasjenige, was Sprachgestaltung selber ist.
[...] Es gewinnen heute einige Sprachen durch den Verlauf ihrer Entwickelung allmählich einen unkünstlerischen Charakter, verfallen in eine unkünstlerische Dekadenz. Und wenn nun der Dichter daran geht, die Sprache zu gestalten, so handelt es sich darum für ihn, daß er auf einer höheren Stufe diesen Sprachentstehungsprozeß selber wiederholt, daß er in der Gestaltung seiner Verse, in der Behandlung des Reimes, in der Behandlung der Alliteration [...] etwas trifft, was verwandt ist diesem Sprachentstehungsprozeß.
Der Dichter wird durch sein intuitiv-instinktives Vermögen gedrängt, da wo es sich darum handelt, das Innere zum Ausdruck zu bringen, zum Vokalisieren zu greifen; man wird eine Häufung der Vokale haben. Und wenn der Dichter das Äußere zu gestalten hat, wird er greifen zum Konsonantieren. Man wird eine Häufung des einen oder anderen Elementes haben, je nachdem das Innere oder das Äußere zum Ausdruck gebracht werden soll. Dem muß der Rezitator und Deklamator nachgehen, denn dadurch wird er jenen Rhythmus von Innerlichkeit und Äußerlichkeit wiederum nacherschaffen können. Auf diese Sprachgestaltung, auf das Herausheben dessen, was so in dem künstlerischen Behandeln der Sprache liegt, wird es vorzugsweise ankommen bei der Neugestaltung der rezitatorisch-deklamatorischen Kunst.“ (Rudolf Steiner, Marie Steiner-von Sivers, Die Kunst der Rezitation und Deklamation (GA 281), S. 100ff)